Dienstag, 18. Juli 2017
ANA - Anachronistische Assoziationen
Geschichten zwischen Tür und Angel



Ana empfand keinen Hass, keine Liebe, sie konnte sich nicht erinnern, einmal Gefühle gehabt zu haben, aber sie interessierte sich für die Menschen und die Welt.
Ana stand oft allein auf dem Marktplatz, beobachtete ihre Umgebung, die Menschen, die an ihr vorüberliefen. Ana wusste nicht, wie sie geworden war, so, wie sie war. Sie ahnte, dass es mal eine empathische Zeit gegeben haben musste. Aber, sie erinnerte sich nicht mehr, nicht an lang Vergangenes und auch nicht an Gestriges. Sie lebte im Jetzt. Ohne Gefühl oder Erinnerung. Wenn aber ein Mensch sie interessierte flammten sie auf: Assoziationen. Nicht aus ihrer Persönlichkeit heraus, nein, aus der Fremde drangen sie ein, in Ana. Sie schaute dem Menschen einige Momente bei einer seiner Vergangenheiten zu. Mögliche Vergangenheiten, die in ihren Assoziationen Wirklichkeit wurden. Wirklichkeit in Anas Welt.
Auch heute stand Ana auf dem Marktplatz, ein heruntergekommener Platz, im Gegensatz zu den örtlichen Parkplätzen nicht sonderlich gepflegt. Ein recht eleganter Mann, mit verwegenem Blick streifte Ana.

Sein Kopf fühlte sich dumpf an. Seine Frau saß neben ihm. Sie saßen auf dem Sofa. Er versuchte zuzuhören. Ich gehe eine Zigarette rauchen, sagte er, stand auf und ging in den Flur. Er zog seine Schuhe an und verließ die Wohnung. Draußen war es bewölkt, auch nieselte es. Er zündete sich eine Zigarette an und wanderte umher. Ein Mann lief die andere Straßenseite entlang. Er ging auf die andere Seite und stellte sich dem Fremden in den Weg. Der Fremde kam auf ihn zu, schaute ihm in die Augen. Dann schob er ihn beiseite und setzte seinen Weg fort. Er ärgerte sich. Er nahm eine neue Zigarette und zündete sie an. Er ging die Straße entlang bis zur Kreuzung. Autos fuhren je nach Farbeinstellung der Ampeln. Er schaute sich ärgerlich um, sah einen Stein und hob ihn auf. Er schaute auf die Straße, auf die vorbeifahrenden Autos. Sein Arm war angespannt, er zitterte leicht. Es regnete. Er lief auf und ab, wütend und bewaffnet. Plötzlich wurde er angekläfft. Ein hässlicher kleiner Köter bellte, zog eine alte Dame hinter sich her. Er betrachtete den Hund, dann die Dame, die freundlich grüßte, den Hund ermahnte und sich bei ihm entschuldigte. Als sie vorüber gegangen waren, schaute er wieder auf die Straße. Kein Auto fuhr. Er ließ den Stein fallen und nahm eine weitere Zigarette, rauchte, ging langsam zum Hauseingang. Er schnippte die Zigarette in einen Gully, dann schloss er die Haustür auf. Zurück in seiner Wohnung, fragte er seine Frau, ob sie einen Tee wolle, setzte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss.

Ana ging über den Marktplatz. Auf einer Bank saß ein Mann, vertieft in ein Buch. Er griff in seine Rocktasche, eine Packung Zigaretten kam hervor, er nahm eine heraus, zündete sie an und rauchte. Er schaute sich um, sein Blick traf Anas. Sie kam näher, streckte ihre Hand aus und streichelte dem Mann über die Wange. Eine Träne kullerte langsam über sein Gesicht.

Er schrieb, endlich schrieb er. Er schrieb eine Story. Seit langem saß er immer nur da und dachte nach. Nun endlich, hatte er angefangen zu schreiben. Er hatte immer schon schreiben wollen. Ihm fiel aber nichts ein. Nun hatte er beschlossen einfach loszulegen - und schrieb. Ein Thema hatte er nicht, aber Papier und einen Stift. Nein, das war gelogen, er saß am Computer und tippte. Er durfte nicht aufhören zu tippen, denn sonst würde ersichtlich, dass er gar nicht wusste worüber er schreiben könnte. Nun gut, er schrieb. In früheren Zeiten versuchte er auch schon mehrmals mit dem Schreiben zu beginnen. Aber es gab da immer dieses eine Problem. Wenn er seine Gedanken bündelte, um sich auf eine tiefe, moralisch veritable Geschichte, oder eine philosophische Abhandlung zu konzentrieren, die er gedachte zu Papier zu bringen, dann kam sie - die Kuh. Er dachte unweigerlich und immerfort an eine Kuh, eine wiederkäuende Kuh. Alle großen Gedankengänge zerflossen zu Milch, die aus einem Euter einer wiederkäuenden Kuh tropften. Jetzt, da er schrieb wollte er weiter schreiben, Kuh hin oder her. Somit hörte er einfach nicht auf. Er schrieb trotz wiederkäuender Kuh weiter. Die Kuh kaute und kaute und kaute wieder. Warum tat sie das? Dies könnte doch Inhalt sowohl eines großen Sittengemäldes unserer Zeit, als auch soziologische Prohibition sein, dachte er. Also schrieb und schrieb und schrieb er, über die Kuh. Die Kuh käute wieder. Käute auch ich hin und wieder wieder, fragte er sich. Eigentlich nicht, schlussfolgerte er, und schrieb weiter. Plötzlich hörte er seine Gedanken nicht mehr. Es machte lediglich leise muh. Dies muh lag schwer in seinem Kopf. Er legte Stift und Papier zur Seite, nein, er ließ einfach davon ab, zu tippen. Er verließ leise und vorsichtig das Haus, ging zurück in den Stall und fing wieder damit an wiederzukäuen.

Ana ließ von dem Mann ab, drehte sich von ihm weg und ging. Sie lief eine Straße entlang, in der die Menschen hin und her liefen, einander überholten und die Straße flink kreuzten, als wäre der Verkehr nicht haarsträubend. Ana hielt vor einem Hauseingang mit der Nummer 63. Sie blickte durch das Schaufenster und sah eine Gruppe von Männern einfach nur dasitzen. Sie betrat das Gebäude und auch den Raum mit den einfach so da sitzenden Männern.

Er saß da, ohne Grund. Er saß am Abgrund - grundlos. Seine Sicht der Dinge verleitete ihn, sich dem Abgrund zu nähern, einmal in diesen zu schauen, um schließlich Kehrt zu machen. So saß er also am Abgrund. Plötzlich stach es ihm in einer Hirnwindung. Er fasste sich an den Kopf. Als er die Hand wieder zu Boden führte, sah er seine Handfläche an und entschied aufzustehen. Er stand also auf und entfernte sich vom Abgrund, erst langsam, dann schneller. Er rannte, verlangsamte wieder, um endlich gemächlich vom Abgrund fort zu schleichen. Jetzt fragte er sich natürlich wohin. Er ging also erst einmal zu seiner Familie. Seine Familie aber ödete ihn an. So ging er zu seiner Arbeit. Die aber war anstrengend und ohne Sinn. Also ging er zu seiner Freizeitbeschäftigung. Er beschäftigte sich einige Zeit mit seiner Freizeit. Da stach es wieder im Hirn. Er brach seine Freizeitbeschäftigung ab, stand einfach so da und horchte in sich. Er vernahm nichts. Er verharrte noch einen Moment, dann ging er zurück zum Abgrund. Er setzte sich hin und schaute hinein.

Er: Warum sitze ich hier?
Über-IHM: Weil du ohne Sinn bist.
Er: Warum bin ich ohne Sinn?
Über-IHM: Weil du hier sitzt.

Ana ging zu den Männern. Sie saßen einfach so da bei gedämpftem Licht. Eine Tasse Kaffee hatte jeder vor sich stehen, den Blick jeweils geradeaus, ins Leere. Sie kam einem von ihnen ganz nahe. Schaute sich seine Gesichtshaut an. Mit ihrer Zunge ertastete sie seine Poren und Falten. Er seufzte, Ana schmeckte Salz, dann verließ sie durch den Hintereingang den Raum. Sie war plötzlich in einem schönen, gepflegten Garten. Ein Mann mähte den Rasen.

Er war ein einfacher Angestellter. Er saß am Schreibtisch und schrieb. Er schrieb Schreiben, die die Tätigkeit seiner Arbeit - in Form der Tätigkeitsbeschreibung war dies so beschrieben - darstellten. Diese Schreiben füllten Papier und leerten Druckerpatronen. Eines Tages saß er beim Frühstück. Er aß ein Brot und trank Kaffee, seine Frau war, wie immer um diese Zeit, im Keller eingesperrt. Er sperrte seine Frau kurz nach fünf ein. Kurz vor fünf ließ er sie wieder heraus. Seine Frau nahm diese Marotte hin, denn sie hatten keine Kinder. Er kaute auf seinem Brot und spülte es mit einem Schluck Kaffee runter. Da kam ihm ein Gedanke. Dieser Gedanke betraf zum einen seine im Keller eingesperrte Frau und zum anderen die Schreiben, die er zu schreiben hatte. Die Schreiben, die er zu schreiben hatte füllten zwar Papier und leerten Druckerpatronen, sie befriedigten aber nicht seine Sehnsucht nach einem Sinn. Seine Frau andererseits beklagte sich häufig über Langeweile, eingesperrt im Keller. Seine Frau langweilte sich stets, eingesperrt im Keller. Sie las nicht. Dabei waren viele Bücher im Keller. Er las gerne. Früher war das einstmals so gewesen. Er also schrieb Schreiben, die seine Sehnsucht nach einem Sinn nicht befriedigten und sie, seine Frau, langweilte sich, trotz Lektüre, die sie, seine Frau, aber nicht interessierte, dachte er noch einmal, trank seinen Kaffee aus, beendete schließlich diesen Gedanken, horchte noch einmal die Kellertreppe hinunter und ging zur Arbeit.

Der Mann schaltete den Rasenmäher ab, obwohl erst die Hälfte des Rasens gemäht war. Er steckte seinen rechten Zeigefinger in seinen Mund, nahm ihn heraus und hielt ihn in die Luft. Er betrachtete ein Flugzeug hoch am Himmel. Er seufzte und ging zur Terrasse, auf der auch Ana stand und ihn betrachtete. Er kramte in einer Tasche und beförderte ein kleines metallenes Döslein heraus. Er öffnete es und hielt dann eine Sardine in seiner Hand. Er ging zu Ana. Ana öffnete ihren Mund. Der Mann legte die Sardine hinein. Er nahm Ana an die Hand, ging mit ihr zu dem Schuppen neben der Grasfläche und schaltete das Licht ein. Im Schuppen gab es eine Luke, die der Mann öffnete. Ana ging hinein, stieg die Treppen hinab. Der Mann schloss die Luke.

Sie dachte über ihr Leben nach. Sie saß auf der Terrasse, trank grünen Tee mit einem Spritzer Zitrone und dachte nach. Eigentlich wollte sie nur eine Pause machen. Sie hatte zwei Jobs und einen Hund. Die Schule hatte sie abgebrochen. In ein paar Monaten würde sie wieder zur Schule gehen, noch einen Versuch wagen. Vorerst hatte sie aber zwei Jobs und einen Hund. Sie war jung, aber für die eine oder andere Möglichkeit auch schon zu alt. Sie wollte eigentlich eine Pause machen. Nun dachte sie aber nach - über ihr Leben. Sie hatte einen Hund und zwei Jobs. Viel Zeit für eine Pause blieb fast nie. Jetzt machte sie Pause und dachte aber über ihr Leben nach. Sie wollte einfach gemütlich einen grünen Tee mit einem Spritzer Zitrone trinken. Sie trank. Der grüne Tee mit einem Spritzer Zitrone schmeckte fad. Ihr Leben war zwar ziemlich bunt, doch die Zukunft, ihre mögliche Form, ließen ihre Gedanken gräulich verblassen. Gräuliche Gedanken durchwühlten ihre Pause. Sie nahm einen Schluck grünen Tee mit einem Spritzer Zitrone. Er war nur noch lauwarm. Sie trank den Tee aus, blieb aber sitzen. Sie dachte weiter über ihr Leben nach, sie hatte zwei Jobs und einen Hund.

Eine Lampe flimmerte unten im Kellerraum. Ana stand da und schaute auf einen Stuhl. Sie ging zu dem Stuhl und fuhr mit der Hand darüber. Knartschend ging die Luke wieder auf. Das Licht blendete Ana. Eine Person lief die Treppen hinab. Ein Mann, er setzte sich auf den Stuhl. Die Luke schloss sich. Ana stand hinter dem auf dem Stuhl sitzenden Mann. Er wisperte. Verzweiflung verzog sein Gesicht zu einer Fratze.

Er hatte sich ein Gewehr gekauft. Auch Munition. Nun saß er in seinem Zimmer. Er schaute sich nach einem geeigneten Ort um. Einen Ort für sein Gewehr und die Munition. Sein Blick streifte die Truhe, ein Erbstück. Er stand auf und ging zur Truhe. Er öffnete die Truhe - sie war leer. Er legte das Gewehr und die Munition in die Truhe und schloss sie. Er ging ins Bad, zog sich aus und duschte. Er rasierte sich, ging auf die Toilette und ärgerte sich. Normalerweise würde er erst auf die Toilette gehen, sich dann rasieren, um schließlich zu duschen. Ihn kamen Gedanken des Zweifels, unmerklich wurde er wohl nervös. So entschied er sein eigentliches Vorhaben zu überdenken. Er zog sich an und ging auf die Straße. Er lief den Bürgersteig entlang bis zur Bushaltestelle. Er wartete auf den Bus, er stieg in den Bus und fuhr schließlich mit dem Bus. Er stieg aus dem Zug, ging über die Straße zu der Wohnung seines Freundes. Er klingelte, es summte, er betrat den Flur. Er nahm den Fahrstuhl und fuhr in den 34. Stock. Er ging durch die offenstehende Tür, begrüßte seinen Freund und setzte sich in den Sessel. Der Freund machte Kaffee, brachte diesen und setzte sich seinerseits auf einen Sessel. Sie schwiegen. Sie tranken ihren Kaffee aus. Was hast du jetzt vor? Nichts. Er stand auf, gab seinem Freund die Hand und ging. Zu Hause nahm er das Gewehr und die Munition aus der Truhe, nahm sein Handy und schrieb eine Kurzmitteilung. Später klopfte es an seiner Tür. Er öffnete, gab dem anderen das Gewehr und die Munition und schloss die Tür.

Ana wurde schwindelig. Ihr Bauch krampfte, ihr wurde schlecht. Ana verließ den Keller, ging durch den Garten in den Raum und wieder auf die Straße. Dort musste sie würgen und aufstoßen. Eine Frau hielt ihr eine Flasche Wasser hin. Sie trank. Die Frau streichelte Anas Rücken. Komm, sagte die Frau. Ana atmete ein paarmal tief durch und folgte der Frau.

Sie rührte in ihrem Kaffee. Der Zucker hatte sich schon längst aufgelöst, doch sie rührte und rührte. Sie dachte sie sei schön. Sie nahm einen Schluck. Er war nur noch lauwarm. Sie stand auf, zog den Bademantel aus und ging schwimmen. Sie schwamm im Pool einige Runden. Sie stieg aus dem Wasser, nahm das Handtuch und trocknete sich ab. Sie ging ins Haus. In der Küche stellte sie den Wasserkocher an. Sie holte die Kaffeetasse, spülte sie aus und tat zwei Löffelchen Kaffee in sie hinein. Der Kocher machte Geräusche, aber das Wasser kochte noch nicht. Sie fand, sie sei nicht mehr so schön wie früher. Das Wasser kochte. Sie goss es in die Tasse und ging auf die Terrasse. Sie nahm zwei Stück Zucker und rührte den Kaffee um. Sie war nicht mehr jung. Sie nahm einen Schluck Kaffee, stand auf und ging in das Schlafzimmer. Im Schlafzimmer zog sie sich an, kämmte ihr Haar, putzte ihre Zähne. Sie nahm eine Tasche, nahm Geld, Papiere und ein Foto von ihr und ihrem Mann, ließ aber die Schlüssel liegen. Sie ging in den Flur, öffnete die Haustür, trat hinaus und schaute sich noch einmal um. Sie schloss die Haustür und ging. Ihr Mann saß in seinem Büro, als sie plötzlich im Türrahmen stand. Sie schaute ihrem Mann in seine Augen. Er wusste warum sie hier war. Er stand auf, sie kamen einander näher und umarmten sich. Sie drehte sich um und verließ das Büro. Er setzte sich und machte sich wieder an seine Arbeit.
Ana und die Frau erreichten den U-Bahnhof, durchquerten die Katakomben und stiegen in eine U-Bahn. Sie setzten sich nebeneinander. Die Frau schaute aus dem Fenster, Ana sah zwei Jungs an, Zwillinge. Sie stritten darüber, wer am Fenster sitzen dürfe. Die Mutter ging dazwischen, beruhigte die Brüder und erzählte ihnen ein Märchen.

Es wird einmal eine Zeit gegeben haben, in der die Welt zu einer einzigen Stadt geworden sein wird. In dieser Stadt kamen an einem kühlen Wintermorgen Max und Moritz zur Welt. Während die Mutter sich erschöpft zur Ruhe bettete, meinte der Vater, er wolle Blumen, darob des geschehenen Wunders, pflücken gehen. Die Worte der Mutter, die Welt sei doch einzig Stadt und im übrigen sei Winter, störten den Vater nicht, also ging er. Die Mutter stillte und schlief glücklich ein. Als sie erwachte schliefen die Knaben. Doch wo war ihr Mann? Sie ärgerte sich sehr, zog Mantel und Schneestiefel an und folgte den Spuren im Schnee. Gesehen wurden Vater und Mutter nimmermehr. Es wurde gemunkelt, sie hätten sich in der Welt, in dieser riesigen Stadt, einfach verlaufen.
Nun waren die Knaben Waisen geworden. Eine strenge Tante nahm Max, ein aufgeklärter Onkel Moritz. Max wurde, wenn er etwas falsch, schlecht oder unflätig tat, geprügelt, eingesperrt oder mit heißem Kaffee verbrüht, er wurde bestraft. Moritz aber kannte Bestrafung nicht. Der aufgeklärte Onkel benutzte ein Belohnungssystem. Immer, wenn der Junge etwas im Sinne des Onkels tat, gab es ein Stück Schokolade, ein Lächeln oder sogar eine Umarmung. Oft wartete der Junge doch vergeblich auf die Belohnung. Er entwickelte ein schlechtes Gewissen. Sein Bruder aber wurde zorniger und zorniger und zorniger.
Nun wurden die Brüder erwachsen, heirateten und machten Karriere. Max schlug regelmäßig seine Frau, was ihm für die bitteren Enttäuschungen auf seinem Karriereweg, entschädigte. Moritz glaubte alles falsch zu machen und verlor so jedes Gefühl für seine Frau. Als die Frauen also gegangen oder tot waren, waren Max und Moritz allein und fingen an zu trinken. Sie tranken so viel, dass sie auch noch Arbeit, Heim und Verstand verloren. So trafen sie sich des Nachts im Park unter anderem Gesindel, lächelten einander zu und wenn sie nicht gestorben sind, dann trinken sie noch heute.
Als die U-Bahn an einer Station hielt, die in einem ländlichen Teil der Stadt gelegen war, stiegen Ana und die Frau aus. Sie verließen die U-Bahnstation. Ana folgte der Frau. Die Straßen wurden immer unbewohnter, die Häuser immer schäbiger. Plötzlich lag ein Haus vor ihnen. Allein für sich, irgendwie aus der Zeit gefallen. Die Frau ging geradewegs auf die Haustür zu, öffnete sie, drehte sich zu Ana und warf ihr einen freundlichen Blick zu, doch mit hineinzukommen. Ana folgte ihr. Sie gingen die Treppe hinauf, dann einen Flur entlang. Die Frau klopfte an eine Tür. Die Tür öffnete sich erst nur einen Spalt breit. Ein Auge besah sich Ana und die Frau. Das Auge verschwand, die Tür öffnete sich und die Frau nahm Ana wieder an die Hand und sie betraten das Zimmer des Täters.

Sie schrien um ihr Leben. Ihre Gesichter waren verzerrt. Blut spritzte. Er schaltete ab. Er saß da und blickte auf den schwarzen Bildschirm. Er saß noch eine Weile so da, räusperte sich dann und stand auf. Er ging zu seiner Zimmerpflanze und strich über eines ihrer Blätter. Draußen war es schon lange dunkel. Er stand noch einen Moment herum und schaute ins Leere. Plötzlich läutete es an der Tür. Beim zweiten Läuten begann er sich zu rühren. Beim dritten Läuten bewegte er sich zur Tür und betätigte den Türöffner. Er öffnete die Tür einen Spalt breit und ging ins Badezimmer. Er wusch sein Gesicht und ging zurück in den Flur. Er hörte den Fahrstuhl halten, die Tür sich öffnen, aber keine Stimmen. Er hörte die hochhackigen Schuhe stöckeln. Die Tür öffnete sich und zwei Frauen betraten die Wohnung. Sie blickten ihm kurz in die Augen, gingen an ihm vorbei ins Wohnzimmer und setzten sich auf das Sofa. Er folgte ihnen und setzte sich in einen Sessel. Was wollt ihr? Du weißt was wir wollen. Er stand auf und ging ins Schlafzimmer. Er zog seinen Anzug an und kam zurück. Wir können gehen. Sie verließen die Wohnung, fuhren mit dem Fahrstuhl runter und gingen zum Parkplatz. Sie stiegen in ein Auto. Er hinten, sie vorne. Sie fuhren los. Wie soll ich es tun? Wie du es magst. Sie hielten. Er stieg aus. Fahrt! Er ging.
Am nächsten Tag klingelte das Telefon. Er hat es getan. Sie legte auf, setzte sich an den Küchentisch und fing an ihre Fingernägel zu lackieren.
Ana und die Frau gingen zu ihm, dem Täter, in den Raum. Er saß da verschwitzt, stinkend, sich selbst aufgebend. Sie zog sich aus. Sie stand nackt vor ihm. Er betrachtete sie kurz, stand auf und holte eine Flasche. Er trank einen großen Schluck, dann gab er die Flasche der nun nackten Frau. Sie trank die Flasche aus, nahm sie am Hals und schlug sie in Wildwestmanier kaputt. Mit der zersplitterten Flasche stand sie vor dem Täter. So blieben sie stehen. Ana wusste, dies war der Zeitpunkt ihre neuen Freunde zu verlassen. Sie verließ das Haus. Auf dem Weg, den sie nun ging, irgendeine Landstraße, traf sie auf ein altes Paar, sitzend auf einem großen Stein. Sie hielten sich bei der Hand und, das konnte Ana erkennen, warteten auf den Tod.
Sie lernten zusammen für die Prüfung nächste Woche. Plötzlich schlug sie ihn. Er schaute sie verblüfft an. Sie verzog ihr Gesicht, schaute weg. Er stand auf und ging in das Badezimmer. Sie hörte, wie er sich übergab. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie stand auf, packte ihre Sachen und ging.
Am nächsten Tag rief sie ihn an. Aber er antwortete nicht. Sie überlegte, ihm zu schreiben, knallte dann jedoch den Laptop zu. Sie nahm sich eine Zigarette und zündete sie an. sie rauchte, schaute aus dem Fenster und traf eine Entscheidung. Sie ging.
Zwanzig Jahre später war er auf dem Weg zum Bahnhof. Eine Frau sprach ihn an, ob er etwas Kleingeld habe oder aber ein bisschen Spaß wolle. Er sah sie an. Du bist es? Sie schwiegen. Sie setzten sich, nahmen sich in die Arme und schauten in die Stadt hinein. Als es langsam dunkel wurde stand er auf, streichelte ihre Wange und ging. Sie schaute ihm nach, nahm sich eine Zigarette und zündete sie an. Sie rauchte und wusste, sie hatte sich richtig entschieden.
Sie starben. Ana schloss ihre Augenlieder. Die Sonne ging unter und Ana weiter. Als es dunkel war begegnete ihr ein Mann. Er betrachtete sie kurz und sagte dann: Komm mit! Er ging querfeldein zu einem Wohnwagen. Schau: hier wohne ich. Sie setzten sich an einen kleinen Tisch vor dem Wohnwagen. Er nahm ein Stück Käse, zwei kleine Päckchen Orangensaft mit Strohhalmen und zündete eine Kerze an. Auf Dich habe ich gewartet. Du bist jedoch zu früh. Der Käse ist ja noch gar nicht reif.

Er lag in seiner Truhe. Die Truhe war verschlossen. Aber es gab ein Loch, sein Guckloch. Durch dieses Guckloch beobachtete er die Welt. Für ihn war die Welt der Raum, in dem die Truhe stand. Er lebte nun schon eine Ewigkeit in diesem Zimmer. Er erinnerte sich jedenfalls an keine Zeit vordem. Seit er in diesem Zimmer lebte, liebte er es in die Truhe zu steigen, sie zu schließen und die Welt zu beobachten. Wie die Truhe allerdings in sein Zimmer gekommen war, wusste er nicht mehr. Auch, ob er sogleich die Vorteile der Truhe erkannt hatte und er es sich in ihr von Anbeginn ihrer Existenz im Zimmer gemütlich gemacht hatte. Er wusste lediglich, dass er ohne diese Truhe wohl würde nicht weiterleben wollen, jedenfalls in diesem Zimmer. Und eine Welt außerhalb dieses Zimmers stellte er sich gar nicht erst vor. Er wusste zwar, dass es eine geben müsse, da von Zeit zu Zeit ja schließlich sein Zimmer, also seine Welt von anderen Menschen betreten wurde. (Seine Truhe übrigens schloss auch nicht er selbst ab. Das ging denn auch gar nicht - das Schloss befand sich schließlich an der Außenseite der Truhe.) Die Existenz der Welt draußen, die er sich zwar nicht vorstellte, bezweifelte er aber nicht. Er war nicht verrückt.
Eines Tages, er lag in seiner Truhe und döste, als plötzlich Schritte zu vernehmen waren. Dann polterte es und Stimmen, Frauenstimmen, erklangen. Er sammelte sich einen Moment, um dann durch das Guckloch zu schauen, was sich in seiner Welt da so geräuschvoll tat. Da saßen drei Frauen eng beieinander auf seinem Sofa. Sie waren etwas jünger als er, adrett, selbstbewusst. Er horchte. Sie erzählten Geschichten, Geschichten aus früheren Zeiten, Geschichten über ihn. Aus Zeiten, die er nicht erinnerte. Säße er aber nicht in der Truhe, so wusste er, er wäre errötet, denn gelogen war es wohl nicht, vielleicht ein wenig umschmückt. Er konnte sich an eine Vergangenheit, an eine Zeit, vor seinem Zimmer zwar nicht erinnern. Wenn er aber aus seiner Vergangenheit, aus der Zeit bevor er dieses Zimmer bewohnt hatte, über ihn erzählen hörte, wusste er, ob gelogen wurde oder nicht. Und wenn er Geschichten aus der Zeit vor der Zeit seines Zimmers aus seiner Truhe heraus belauschte, wurde eben niemals gelogen, höchstens umschmückt, aber nicht gelogen. Es gab auch überhaupt keinen Grund, zu lügen, das war ihm leider auch allzu klar. Zum Glück aber saß er in seiner Truhe. Er horchte noch eine Weile den umschmückten Geschichten, dann döste er wieder ein. Als er wieder aufgewacht war, war es ruhig, sehr ruhig. Er spähte durch das Guckloch, sah nichts, hörte auch nichts, roch aber noch etwas. Den Geruch konnte er fast immer gut ertragen, egal ob Duft oder Gestank, wahrscheinlich, vermutete er, war er in früheren Zeiten, Zeiten, da er noch nicht sein Zimmer bewohnte hatte und die er auch nicht erinnerte, Kosmopolit gewesen. Er stieg aus der nicht verschlossenen Truhe und setzte sich auf das Sofa. Er schaute sich in seinem Zimmer um und dachte, wie schön doch die Welt sei.
Nach ihrem Rendezvous ging der Mann in den Wohnwagen und schlief. Ana hörte ihn schnarchen. Sie legte sich neben den Wohnwagen einfach auf den Boden und schlief ihrerseits ein. Meist träumte sie vom Meer, manchmal aber auch von einem Wald.

Sie ging im Wald ihren gewohnten Weg. Sie machte täglich einen Spaziergang durch den Wald, der sich nicht weit entfernt von ihrem Haus befand. Sie sammelte Kastanien, pflückte Blumen, wenn sie zur Lichtung kam, oder aß Heidelbeeren, Brombeeren und Himbeeren. Manchmal lauschte sie dem Vogelgezwitscher oder brach einen Ast von einem Baum ab. Sie hatte auch immer einen Korb dabei. Im Korb befand sich immer eine Kanne Tee, schwarzer Tee mit Zucker. Sie lief immer bis zu einer bestimmten Bank, die ein wenig versteckt war, so dass die Bank meist frei gewesen war. Dort trank sie Tee und betrachtete den Wald. Normalerweise.
Eines Tages aber hörte sie auf ihrem Spaziergang, nahe der Bank, eigenartige Geräusche. Sie blieb stehen und lauschte. Es waren irgendwie grunzende und schmatzende Geräusche. Sollten etwa Wildschweine unterwegs sein, fragte sie sich. Aber, soweit sie wusste gab es zwar Wildschweine auch hier in der Gegend, doch hatte sie noch niemals solch Grunzen und Schnäuzen in ihrem Wald und auf ihrem Spaziergang gehört. Nun gut, dachte sie, und ging weiter in Richtung der Bank, denn sie freute sich schon richtig auf ihren Tee. Als sie zur Bank kam, war dort zwar kein Wildschwein, aber ein Mann saß auf ihr und schlief, so schien es. Sie blieb stehen und betrachtete den Mann. Er hatte krauses Haar, rote Backen und war ungefähr in ihrem Alter, dachte sie. Er hatte eine rote Hose, ein blaues Hemd und gelbe Schuhe an, die Spektralfarben, freute sie sich. Er räusperte sich, ein Speichelfaden hing an seinem Mundwinkel und wippte gleichmäßig mit der Atmung auf und ab. Sie kam ihm näher, ging in die Hocke und betrachtete ihn aus der Nähe. Er war mal ein schöner Mann gewesen, dachte sie, und nahm neben dem Mann Platz. Sie nahm ihren Tee aus dem Korb und goss sich ein. Sie trank Tee und sah sich den Mann an. Plötzlich öffnete sich ein Lid. Sie erschrak, ein wenig Tee kleckerte auf ihren Ärmel. Ein Auge glubschte sie an, außen gelblich, in der Mitte pechschwarz. Der Speichelfaden hörte auf zu wippen und wurde immer kleiner, wackelte noch mal zwischen den dicken Lippen und verschwand. Das Auge glubschte weiter. Ähm.., guten Tag, möchten Sie eine Tasse Tee, fragte sie lächelnd. Ein Moment verging und das Auge schloss sich wieder. Der Speichel formte sich zu einem Faden und wuchs langsam zu seiner vorherigen Größe an. Sie trank ihren Tee aus, verpackte die Kanne wieder im Korb. Sie blieb noch einen Moment sitzen, um die Herstellung einer Gleichmäßigkeit der Wippbewegungen abzuwarten. Als es wieder gleichmäßig wippte, stand sie auf und führte ihren Spaziergang zufrieden fort.
Als Ana aufwachte war sie in einem Zimmer, dass sie irgendwie schon einmal gesehen haben musste. Sie hatte zwar keine Erinnerungen, aber es fühlte sich vertraut an. Sie hörte vertraute Geräusche. Poltern, Husten, ein Feuerzeug. Sie stand auf und ging in den Flur. Es war wohl eine kleine Wohnung, zwei Zimmer, Küche, Bad. Sie öffnete die Tür zu dem zweiten Raum und sah einen noch recht jungen Mann, krumm, gebeugt, zu Boden blickend.

Er saß auf seinem Sofa in seinem verdreckten Zimmer und rauchte. Er war komplett angezogen, auch Jacke und Schuhe trug er. Draußen war es hell und geschäftig. Er war gerade aufgewacht. Er sah auf den überfüllten Aschenbecher und die leeren Bierflaschen. Es quälten ihn seine Gedanken. Er stand auf, ging in die Küche und machte sich Kaffee. Er setzte sich wieder auf das Sofa, trank Kaffee und rauchte.
Er wurde nervös, seine Nerven schrien, jede Körperzelle schien vergiftet. Er stand auf, als ihn die Angst vollständig packte, ging zur Toilette und erbrach seinen leeren Magen. Er spülte seinen Mund mit kaltem Wasser aus und verließ seine Wohnung. Er zündete sich eine Zigarette an und lief die Straße runter zum Schlachter. Dort gab es gekühltes Bier. Die alte Verkäuferin, die, noch nicht lange her, dachte er, zusammen mit ihren noch älteren Eltern, wann waren sie verschwunden, überlegte er weiter, diesen Laden führte, begrüßte ihn freundlich, doch man konnte ihr auch ansehen, dass dieser mittägliche Drogendeal sie auch irgendwie verwirrte. Er kaufte vier gekühlte Flaschen und ging wieder zurück in sein Zimmer. Er trank und rauchte, dann schlief er ein.
Er saß wieder auf seinem Sofa in seinem verdreckten Zimmer und rauchte. Er war komplett angezogen, auch Jacke und Schuhe trug er noch. Draußen war es nun aber dunkel und ruhig. Die Welt drehte sich weiter. Er machte sich keinen Kaffee. Er zündete sich eine Zigarette an und ging auf die Straße. Er lief zu dem chinesischen Schnellrestaurant, nahm dort sechs Dosen Bier aus dem Kühlschrank, bezahlte und ging. Zu Hause trank er, rauchte und schlief auf dem Sofa ein.

Ana ging in das Zimmer. Der Mann, ihr Freund, schaute sie an. Sie setzte sich zu ihm. Er stand auf und kochte Kaffee in der Küche. Ana betrachtete ihn. Sie nahm sich ein T-Shirt, dass zusammengeknüllt auf dem Sofa lag. Sie roch daran. In Ana regte sich etwas. Sie war plötzlich irritiert, sie stand auf, ging an ihrem Freund vorbei, der mit zwei Bechern Kaffee im Flur stand, und verließ die Wohnung. Draußen blendete sie das Licht.

Die Sonne schien in einer kleinen Stadt. Ein Mann lief mit einer Leiter die Straße entlang. Die Blumen blühten. Der Mann hielt an dem größten Gebäude gegenüber dem Rathaus. Die Bäume waren frisch ergrünt. Kinder spielten Ball auf der Wiese vor dem Rathaus und ließen einen Drachen steigen. Der Mann stellte die Leiter an das größte und auch höchste Gebäude, abgesehen von der Kirche, die natürlich noch höher gewesen war und stieg die Leiter hinauf. Als er oben angekommen war hielt er inne und verschnaufte. Dann kletterte er auf das Dach. Er nahm die Leiter hoch und zog sie hinauf. Er legte sie ab und setzte sich.
Im Rathaus berieten sich Bürgermeister und Priester. Sie berieten darüber, wie sie den Mann mit der Leiter dazu bringen würden, nicht weiter täglich mit der Leiter auf das Dach des Gebäudes zu steigen, dass das zweithöchste der Stadt war. Sie blickten aus dem Fenster und sahen den Kindern beim Spielen zu. Sie dachten nun schon mehrere Wochen darüber nach. Sie hatten auch schon den einen oder anderen Plan entwickelt gehabt. Polizei, Feuerwehr, Verwaltungsbürokratie und auch die Frau des Mannes spielten maßgebliche Rollen, hatten jeweils aber nichts ändern können.
Der Mann stand auf, nahm die Leiter und ließ sie herab. Er betrachtete noch eine Weile die spielenden Kinder, die ihn gar nicht mehr beachteten. Er war glücklich hier oben. Er war gerne einfach auf diesem Dach, nicht lange. Er schöpfte hier oben halt immer wieder neue Kräfte, um unten mitzutun. Alle, auch seine Frau, sagten, dass das nicht gut und richtig sei, aber, so befand er, ihm tat es gut. Er stieg auf die Leiter, plötzlich brach ein Stück Holz heraus, verletzte sein Bein, Blut spritzte, er rutschte ab und fiel runter. Er schlug mit dem Schädel auf den Asphalt. Er röchelte noch ein wenig, dann war er tot.
Die Kinder liefen umher, schauten, weinten, spuckten, entwickelten Traumata. Der Bürgermeister und der Priester sahen dem Unglück erschrocken zu und wussten, nun würden sie sich neue Gedanken machen müssen, um neue Pläne schmieden zu können, um ihre Existenz wenigstens einigermaßen vor sich, vor dem Volk und vor dem Gott zu rechtfertigen. Das was sie sich eigentlich gewünscht hatten, ließ sie jetzt, da ihr Wunsch in Erfüllung, wenn auch mit sehr viel Blut, gegangen war, erschaudern. Woher denn bloß neue Gedanken nehmen?
Einige Wochen später, der Mann war begraben, die Frau schon nicht mehr in Trauer, saßen der Bürgermeister und der Priester auf einer Bank und schauten den Kindern beim Spielen zu, als der Bürgermeister sich plötzlich auf den Priester warf und diesen erwürgte. Wieder schrien, kotzten, weinten die Kinder. Der Polizist kam und schoss. Zwei Geschosse, streiften zwar einige Kinder, aber verfehlten ihr eigentliches Ziel. Die dritte Kugel traf mitten in des Bürgermeisters Stirn. Die Kinder jubelten und der Polizist bließ zufrieden den Rauch aus dem Lauf seines Revolvers und nahm die nicht mehr trauernde Frau des toten Mannes mit der Leiter zu seiner Frau.
Nun waren sie tot - der Mann mit der Leiter, der Bürgermeister und auch der Priester, der Polizist aber glücklich verheiratet mit der verwitweten Frau. Die Kinder spielten wie immer fröhlich auf der Wiese. Sie kickten einander den Ball zu, murmelten oder hüpften unsinnig herum. Die Sonne schien recht hübsch in einer kleinen Stadt.

Ana stand willenlos herum. Kein Gedanke, kein Gefühl, immer noch nichts, keine Erinnerung. Nun gut, dachte Ana. Ich werde zum Markt gehen und ein Döslein Sardinen kaufen. Und Ana ging auf den Markt und kaufte Sardinen.

Ana aß Sardinen und träumte in den Tag hinein, als da ein kleiner hässlicher Gnom vor ihr stand. Er sah sich Ana von schräg unten an, prüfend, kritisch und begann schließlich zu deklamieren.

Irrtum (2000)
Er geht hinfort. Hier zu bleiben wäre eine Sünde, nicht nur um Gottes Willen, sondern um Gotteswillen!, die eigene kleine Persönlichkeitsverrenkung in den Griff zu bekommen. Wobei „in den Griff“ paradoxerweise die Flucht meint. Naja, wo will er denn nun hin, der Abtrünnige? Sein Weg führt ihn immer, aber auch immer und immer wieder zurück! Komisch ist das, nicht wahr? Doch sollten wir seine Tragödie nicht mit unserer Komik verwerten. Also nochmal: Tragisch ist das, nicht wahr?! Angekommen am Ziel, so denkt er, ist ihm wohl doch nicht mehr, auch nur im geringsten, zu helfen, überkommt ihn ein massiver Schub eines doch nun wirklich völlig unangebrachten Hochgefühls! Herrje, man gebe ihm doch Führung! Sei’s drum.
Am sogenannten Ziel nun schicklichst platziert, passiert sonderliches. Obgleich wir ja nun festgestellt haben, daß benanntes Objekt, welches seiner Begierde nach zu urteilen, zur Abnahme der Buße wohl genüge, daß gerade dieses, aus obiger, ja wundervoll objektiver Perspektive, einfach, nun ja, als Irrtum, wenn auch individueller Art, zu benennen wäre. Doch, Gott verzeihe unserer von Vorurteilen geprägten, kleinkarierten Urteilsanmaßung. Er setzt sich! Der wilde, von Unruhe geprägte Fortgang erweist sich als genaues Gegenteil des besagten Irrtums!

Der Poet verbeugte sich vor Ana und ging, nein ging ab. Das Licht veränderte sich, Ana kam es vor, als ob sie nun im Rampenlicht stünde, doch nein, der Lichtkegel lief über die Straße hin zu einem Winkel. In diesem Winkel waren ein Mann und eine Frau zu sehen, verängstigt, sich unruhig umschauend.

Sie waren zu Hause geblieben. Sie saßen auf dem Sofa, es war schon dunkel. Sie stand auf und zündete eine Kerze an. Er betrachtete sie, ihre Silhouette, ihren schönen Körper. Ihr war es angenehm so von ihm betrachtet zu werden. Sie setzte sich wieder zu ihm. Er kam ihr näher und küsste ihren Hals, ihre Wange, dann ihre Lippen. Sie küssten einander, zufrieden, ruhig, glücklich. Plötzlich hämmerte es an die Tür. Bumm. Bumm. Bumm. Sie schreckten auf, sahen einander fragend an und horchten. Bumm. Bumm. Bumm. Er beruhigte sie mit seinem Blick und einer Geste und stand vom Sofa auf. Er ging durch den Flur zur Haustüre und horchte. Sie war ihm gefolgt und stand hinter ihm. Bumm. Bumm. Bumm. Sie hatten Angst. Er öffnete vorsichtig die Tür. Ein Schatten fiel in ihre Richtung. Sie wussten, er war es. Er kam in die Wohnung. Sie gingen in das Wohnzimmer und setzten sich, sie auf das Sofa, er auf den Holzstuhl. Er holte aus seiner Tasche einen kleinen Scheinwerfer, stellte diesen auf den Tisch und steckte das Kabel in die Steckdose. Licht erstrahlte ihn. Die Kerze erlosch überfordert von ihrer elektrischen Konkurrenz. Das Publikum auf dem Sofa atmete tief durch und war auf alles gefasst. Er begann zu rezitieren.

Ruhe (2000)

Der Sturm wird schwächer,
Nun bleibe ich stehen,
um zu horchen,
vielleicht auch zu fühlen.
Der Sturm zerstörte so manche Herberge!
Keine Chance zur Flucht,
wie denn auch?
Nun stehe ich vor gefallenen Blättern,
der Sturm ist vorbei,
so hoffe ich.
Was kommt jetzt?
Der Sturm ist nicht vorbei,
er wandelt sich.
Was wird er?
Er wird schwach.
Seine Schwäche aber ist immer noch stark genug, die Trümmer zu verwehen.
Zum Vorschein nun, bringt er etwas grässliches – Reinheit.

Eine Zerreißprobe (2000)

Was soll ich tun?
Soll ich überhaupt irgendwas tun?
Egal, .. morgen ist auch noch ein Tag.

Du mußt dich entscheiden – verdammt!
Wofür?
Es liegt ein Schleier über allem.

Es nagt an mir.
Mein Gott ist es wirklich schon soweit?
Egal, .. morgen ist auch noch ein Tag.

Ana hielt sich die Ohren zu. Sie verkrampfte und ließ sich auf die Straße fallen. Ein Auto hielt. Ein Mann stieg aus, beugte sich zu Ana und drückte die Nase. Ana wurde sauer, sie empfand unfassbare Wut. Der Mann ließ die Nase los, setzte sich in sein Auto. Ana stand auf, ging zur Beifahrerseite, gab dem Poeten noch einen Tritt in den Po und stieg zu dem Mann in sein Auto, jetzt ohne Wut.

Er lief die Straße in die Richtung, die er am liebsten lief bei Nieselregen. Er lief und genoss das Prickeln in seinem Gesicht und freute sich anzukommen. Da aber verließ ihn sein Glück. Er würde nirgends ankommen, denn es gab niemanden mehr, der auf ihn wartete, der ihn empfänge oder um etwas bäte. Früher war er sehr viel unterwegs, unter Menschen, gewesen, konnte den Nieselregen daher kaum genießen. Heute war er allein. Das fatale an seiner Lage war, er würde sie, seine Lage, nicht ändern können, nicht ohne Opfer, und das war wörtlich zu nehmen. Es fing an, als er eigentlich glücklich verheiratet gewesen war. Seine ersten Opfer waren die Schwiegereltern. Sie hatten ihn abscheulich genervt. So hatte er sie vergiftet. Nach seltsam kurzer Zeit ging es ihm dann nicht nur gut, sondern besser als je zuvor, ganz ohne Schuldgefühle. So vergiftete er auch die Freundinnen seiner Frau, dann die Freunde seiner Kinder und teils deren ganze Familien. Irgendwann saß er bei seinen eigenen Eltern beim Abendessen. Es wurde genörgelt. Da kam ihm der zuvor absurd erschienene Gedanke auch die eigenen Eltern zu vergiften gar nicht mehr so absurd vor. Er las in der Bibel und fand Präzedenzfälle. Als seine Eltern, Geschwister, Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins, Neffen und Nichten im Paradies sich labten oder in der Hölle schmorten, stellte er fest, auf Spaziergängen bei Nieselregen, die er auch jetzt nur teilweise genießen konnte, dass er noch immer nicht rundum glücklich war. Also vergiftete er seine Frau und auch seine Kinder. Er hatte nun nur noch seinen Freund. Mit diesem konnte er einfach so herum sitzen, ohne zu reden, ganz entspannt und die Lieblingsmusik hören oder schöne Filme anschauen. Sonst unterhielten sie sich eigentlich nur über abstrakte und unpersönliche Dinge. Auch die Todesfälle in seiner Familie wurden höchstens mal gestreift. Als er nun dachte völlig entspannt, ausgeruht, ja wirklich glücklich zu sein bei seinem Weg durch den Nieselregen und schließlich bei seinem Freund eintraf, musste er entsetzt feststellen, dass jener sich neue Ansichten zugelegt hatte. Der Freund war nämlich, bis auf seine Freundschaft zu unserem Held, sehr einsam gewesen und er machte deshalb seit kurzem, wie es üblich war, eine sogenannte tiefenpsychologische Psychotherapie. So musste neben der Therapeutin letztendlich auch der Freund das zeitliche segnen. So war er also ohne Familie und Freund, nicht unglücklich, da ohne Ärger, Bitterkeit und Zickereien, aber eben auch ganz allein.

Im Auto lief music for the masses von depeche mode. Sie fuhren einige Zeit auf der Autobahn, es war bereits dunkel geworden. Die Spuren der Autobahn verbreiterten sich, die Beleuchtung wurde dichter, wie der Verkehr. Sie fuhren in die Stadt, locker, cool, sie schwammen eher in die Stadt. Sie fuhren die Straßen entlang, die immer kleiner und weniger beleuchtet waren. Sie hielten an einer kleinen Villa. Sie stiegen aus und sahen einen Mann im Nachbargarten, der Ana lüstern hinterher blickte.

Er saß bei seinen Blumen. Er trank Kaffee und aß Oliven. Früher hatte er getrunken, er hatte sich den bürgerlichen Dreck von der Seele gesoffen. Das hatte er nun nicht mehr nötig gehabt, denn seine Seele hatte er schon vor langer Zeit einem Freund für einen Schluck Pepsi verkauft. Er schaute auf seine Pflanzen, die teilweise schon Blüten trieben. Neben ihm stand die Schubkarre, gefüllt mit alten, von ihm ausgebuddelten Klostersteinen und Wasser vom Regen. Er stand auf und ging zur benachbarten Wiese und schnitt Blumen. Die Blumen legte er zu den Steinen in die Schubkarre, so, dass sie vom Regenwasser trinken konnten. Plötzlich wurde es still um ihn, die Vögel zwitscherten und tirilierten nicht mehr. Ein Knall durchzog die Luftmassen. Einige Krähen wurden aus ihrer Eiche aufgeschreckt und flogen unter Gekrächze davon. Er war ganz ruhig. Er schaute in den Himmel, betrachtete eine vorbeiziehende Wolke und wartete ab. Schwere Schritte waren zu hören, dann raschelte ein Gebüsch, ein schräges Pfeifen ihrer Atmung durchwühlte die Luft. -Komm her. Er drehte sich zu ihr, ließ den Kopf sinken und versuchte seine Gefühle zu sortieren. Es gelang ihm nicht. Er gab ihr seine Hand, welche ihn mitzog zurück in ihr Haus. Schnaufend führte sie ihn hinein. Als sich die Tür knartschend geschlossen hatte, fingen die Vögel von neuem an, zu zwitschern und zu tirilieren. Die Krähen flogen krähend zurück zu ihrer Eiche. Die Blumen neben den Steinen tranken das Regenwasser aus der Schubkarre. Sie ließ sich friedlich lieben.

In der Villa gingen Ana und der Mann in ein großes Zimmer. Spärlich beleuchtet und eingerichtet. Nur ein Bild hing an der Wand, die Mona Lisa. Er setzte sich, machte Musik mit einer Fernbedienung, Nick Cave, öffnete eine Flasche, die vor ihm stand, trank daraus und schickte Ana eine neue Flasche einzukaufen. Er gab ihr Geld, entschuldigte sich, dass er jetzt nicht selbst einkaufen könne, eine Träne verließ eines seiner schönen Augen. Ana streichelte über seine Wange und ging. Auf der Straße ging sie den Weg zum Supermarkt. Im Supermarkt nahm sie eine Flasche und ging zur Kasse. Sie stellte sich in die Schlange und betrachtete die Kassiererin.

Haben Sie eine Bonuskarte?
Sie: ..Schmelzkäse..ich esse ihn, aber ich kaufe keinen..
Haben Sie eine Bonuskarte?
Er: ..und Eier?
Sie: Rührei schon manchmal..
Haben Sie eine Bonuskarte?
..zu Hause hab’ ich keine Eier. Ich mag Eier so nicht, aber..
Haben Sie eine Bonuskarte?
Er: Schmelzkäse ess’ ich schon noch.
Haben Sie eine Bonuskarte?
Sie: Veganer Joghurt ist sehr teuer. Ich kann nicht jeden Tag 2€ für Joghurt ausgeben.
Haben Sie eine Bonuskarte?
Er: Ja, 60€ im Monat.
Sie: ..aber ich backe auch nicht..
Haben Sie eine Bonuskarte?
..und soll ohne Eier auch gar nicht so schwierig sein.
Haben Sie eine Bonuskarte?
Er: Nein.

Als Ana an der Reihe war erkannte die Kassiererin Ana. -Hilf mir, bitte, .. töte mich. Ana erschrak, nahm die Hand der Kassiererin und führte sie aus diesem Vorort der Hölle. Draußen bekam Anas alte Freundin einen schrecklichen Weinkrampf. Ihr Körper zitterte, all das über Jahre angestaute Leiden entlud sich. Zusammen gingen sie zur Villa. Bei dem Mann saß ein anderer Mann. -Gut, dass ihr nun hier seid, wir wollen beginnen. Sie setzten sich auf den Boden, eine leere Flasche wurde gedreht. Sie zeigte auf den neuen Mann und Ana assoziierte.

Er schickte sie fort. Sie war entsetzt, er tat es wirklich, er schickte sie fort. Sie ging. Viele Wochen dachte sie darüber nach, es schmerzte, es würgte sich in ihr zu einem einzigen hässlichen Wust, der alsbald das Licht der Welt erblicken sollte. Eine furchtbare Kreatur, entstanden aus ihrem Ekel gegen ihn und gegen alle. Die Kreatur suchte sich ihren Weg aus ihrem Körper über die Milz. Sie wurde milzkrank und so musste die Milz entfernt werden. Als eine Schwester die Milz dem Hund zu fressen vorwarf, beschnupperte er sie, heulte und verzog sich in die krankenhauseigene Hundehütte. Die Kreatur, die bislang völlig verkrampft an der Milz herumgebissen hatte ließ nun von der Milz ab. Sie schaute sich kurz um und verflüchtigte sich dann am Bordstein entlang in die Kanalisation. Dort ernährte sie sich von Ratten. Sie bevorzugte kranke, lahmende Ratten oder aber Rattenjunge. So wuchs in der Kreatur ein grässlicher Plan heran. Sie, die Schöpferin der abscheulichen Kreatur, war aus der Narkose erwacht und fühlte sich trotz der schwierigen Operation wie neu geboren. Sie fühlte sich befreit. Nach ein paar Tagen verließ sie das Krankenhaus. Zu Hause kochte sie Kaffee und ruhte sich aus. Es klopfte. Sie öffnete die Tür. Er war es. Er nahm sie zurück. Welch Glück! Sie bezogen alsbald ein Haus im Grünen und lebten ihr Glück. Die Kreatur war derweil nicht nur größer und noch gefräßiger geworden. Ihr Plan, der in ihr herangewachsen war, war von solch unglaublicher Bitterkeit, Weltekel und Menschenhass, dass selbst die Kreatur als Ausgeburt des menschlichen Hasses und menschlicher Verachtung, sich wunderte. Sie begann also den Plan in seine abscheuliche Tat umzusetzen. So hockte die Kreatur eines Tages auf dem Dach der glücklichen Familie und beobachtete sie, ihn, und das neu hinzugekommene es. Als es zu ihm geworden war, lernte er sie kennen. Er brachte sie mit nach Hause, Mutter und Vater waren sehr erfreut, umhegten und umpflegten sie. Alles schien sich wunderbar zu entwickeln. Eines Abends saßen sie alle beisammen, Vater, Mutter, Sohn und Schwiegertochter, als es an der Tür klopfte. Die Schwiegertochter öffnete, freudig und kindlich, wie sie war, überstürzt und voreilig, die Tür. Da stand sie, die Bestie, die Kreatur. Voller Ekel und Widerwille aber ließ sich die Schwiegertochter etwas ins Ohr flüstern. Sie erstarrte und schloss die Tür. Sie wurde milzkrank. Im Fieberwahn phantasierte sie so grässlich und verwegen, dass sie sich entschloss den Sohn zu verlassen und mit der Kreatur in köstlich diabolischer Obszönität zusammen zu leben. Der Sohn nahm daraufhin einen Stock und schlug seinen Vater, trotz bettelnder Mutter, tot.

Ana verlor die Fassung und lachte, lachte immer lauter und intensiver. Sie krümmte sich vor lachen. Sie wusste, ohne sich zu erinnern, dies waren einst ihre Freunde gewesen. Sie stand auf, sagte lebt wohl und ging. Sie ging zu einem Auto. In diesem saßen eine junge Frau und ein junger Mann. Sie setzte sich zu ihnen in das Auto und wartete, dass sie losfuhren. Sie schauten sich Ana an, nickten einander zu und fuhren los.

Sie saßen auf einer grünen Wiese und hielten sich aneinander fest. Sie schauten sich in die Augen, in grüne und in braune. Sie streichelten, küssten und liebten einander. Sie legten sich nebeneinander in das frische Gras und schauten in den Himmel. Noch voller Glückseligkeit und Wonne bemerkte er plötzlich einen Stich in seiner rechten Pobacke. Er erschrak. Er sprang auf, drehte sich im Kreis und befühlte seinen Po. Auch sie erschreckte sich und sah, wie er aufsprang, sich im Kreis drehte und seinen Po betastete. Seinen roten und geschwollenen Po. Nun stach es auch sie. Und auch sie sprang auf, blickte entsetzt auf einen kleinen Fleck auf ihrer linken Brust und fing an zu kratzen, da es fürchterlich juckte. Betastend und kratzend schauten sie sich wieder in ihre braunen und grünen Augen. So fassten sie Mut, nahmen sich bei der Hand und rannten los. Sie rannten auf den See neben der Wiese zu. Beim See sprangen sie hinein. Sie schwammen, erst hastig und aufgewühlt, dann ruhig und gelassen. Sie schwammen zurück zum Ufer und verließen den See. Sie betrachteten Po und Busen, liebkosten einander die Blessuren und gingen tapfer ihren weiteren gemeinsamen Weg.

Ana empfand Scham und Schuld. Sie wusste aber nicht, was sie tun sollte. Es krampfte irgendwie, aber es hatte auch einen süßlichen Charme, so voller Schuld und Scham, auf dem Rücksitz fremder Leute sitzend. Sie schaute vorsichtig in den Rückspiegel und sah den Fahrer sie mit zusammengekniffenen Augenbrauen betrachtend.

Er saß im Büro am Computer verbunden mit dem Internet und der Frage ob er etwas einfach nur googeln oder doch besser mit ecosia googeln sollte, damit mit seiner Suche ein Bäumchen gepflanzt werden würde. Er hätte auch dieses oder jenes lesen können, mit diesem oder jenem kommunizieren können, aber er tat nichts. Er saß vor dem Bildschirm mit schwerem Kopf, überflüssigen Gedanken und leicht verkrampften Eingeweiden, da er nun schon seit einiger Zeit dabei gewesen war sich zusammenzureißen. Er saß nämlich nicht allein im Büro. Nun war Mittag. Er schob also seine Nichtstuerei auf die Tageszeit, außerdem war es schwül, warm und eben wettermäßig auch, wie fast immer, wenn nicht contraproduktiv so doch aproduktiv. Es war also Mittag. Er hatte zwar keinen Hunger und auch gar keine Lust irgendwas zu essen, aber er wusste, dass, wenn er nicht bald etwas essen würde, dann brächte er an diesem Tag gar nichts mehr zustande. So beschloss er sich zu erheben. Er erhob sich, schüttelte sich und stieg die Treppen hinab. Endlich konnte er auch seinen Eingeweiden entsprechende Entspannungen zukommen lassen. So entspannte er sich also, erahnte noch kurz mit seinem Geruchssinn die Überbleibsel seiner Entspannungen und lobpreiste den Herrn zum Dank für seine herrliche Schöpfung. Schnell aber beschleunigte er seinen Schritt, als er das Knarzen einer Tür vernahm.Er verließ seine Arbeitsstätte, ging in eine ihm unbekannte Richtung und nahm die ihm völlig neuen Eindrücke wahr.

Nun empfand Ana Ekel in ihr aufkommen. Sie ließ von ihm ab und roch an der Schulter der Beifahrerin, die Ana nun eine Hand reichte. Ana berührte sie. Da überkam sie Mitleid, tiefes schamloses Mitleiden.

Er kam zurück. Er schaute sich düster in seiner Wirkungsstätte um. Er grunzte. Sie erstarrte. Sie wusste nicht, was wohl an diesem Tage wieder auf sie zu kommen würde. Er nahm sich einen zu sich. Die Tür wurde geschlossen. Sie versuchte sich anderweitig zu beschäftigen. Dann hörte sie ihn sich zu ihm rufen. Sie schluckte, stand auf und ging. Sie trat in den dunklen Raum. Er saß in seinem Stuhl, blickte drohend in ihre Richtung, vermied aber den Augenkontakt. Setz Dich. Sie setzte sich. Er stellte schlecht gelaunt schlecht formulierte Fragen. Sie musste trotz ihrer Starre seine wirren Worte enträtseln. Er sprach über verschiedene Dinge, ohne Interpunktion, scheinbar ohne Sinn. Aber sie konnte mit ein bisschen Geduld seine Gedanken entwirren. Dafür aber brauchte sie ein Minimum an Freiraum. Diesen aber gab er niemandem. Er nahm sich erst diesen, dann jenen und stopfte denjenigen dann in seine wilde, brodelnde Gedankensuppe, rührte darin und zerkaute dann die Weichteile des Restes desjenigens Selbstwertes. So wuchs er. Er wurde größer, gewaltiger, hässlicher. Er wuchs schließlich zu einem unfassbaren Monstrum heran. Ein Blick, ein Atemzug und sie verlor jegliche Haltung. Sie trug seine Tasche, schenkte Kaffee nach und öffnete Türen. Sie bedankte sich und bat um Verzeihung. Sie wartete ab und horchte, wenn er nicht im selben Raum war. Manchmal gab er ihr die Hand zur Begrüßung. Dann vibrierten alle ihre Eingeweide. Dann musste sie zur Toilette, kotzen, scheißen und vor allem ihre Hand beschnüffeln. So saß sie denn den größten Teil ihres Arbeitstages meist auf der Toilette nebst Erbrochenem, nicht nur äußerlich verkotet und beschnüffelte seine Liebe zu ihr.

-Raus, schrie die Frau. -Halt an! Raus! Sie hielten. Ana stieg aus, sie spürte, sie wusste, sie war zu weit gegangen. Das Auto brauste davon. Sie ging ein paar Schritte und setzte sich ins Gras. Sie schloss ihre Augen, Bilder durchzuckten die Dunkelheit, Ana erinnerte. Ana öffnete die Augen wieder. Ein Mädchen saß ihr gegenüber. Ana sah es an, sie erinnerte sich und fühlte sich unwohl. Ihr gegenüber saß ihr Gewissen. Mit einer grotesk pseudomännlichen Stimme brüllte Anas Gewissen Ana ins Gewissen.

Ich saß so da. Schaute in die Leere. Die Welt, das Leben, ´s könnt so schön sein. Ich schwelgte. Dann war ich plötzlich nicht mehr allein. -Was schwelgst du so? Lasse ab und komm! -Was, wer da..? -Steh auf und los. Wir wollen gehen. Also stand ich auf und ging. Ich ging schneller und schneller, ich lief, rannte. -Stop! Ich hielt. Ich stand vor einer Tür. An der Tür war ein Schild angebracht mit meinem Namen. Ich klopfte. -Komm rein. Ich öffnete die Tür, ging hinein und sah mich. Ich saß an einem Tisch und schaute in die Leere. Ich sah mich an. Es überkam mich. Ich trat auf mich zu und fing an mich zu schlagen. Ich ließ erst von mir ab, als ich mich totgeschlagen hatte. -Jetzt wirst du schweigen. Ich verließ meine Überreste und ging, glücklich, mir meiner so bewusst wie schon so lange nicht mehr. Ich ging nach Hause, setzte mich an meinen Tisch, lächelte, dann schaute ich wieder in die Leere.

Plötzlich wuchsen Flügel aus des Mädchens Rücken. Eine Träne vergoss es für Ana, schlug mit den Flügeln und schwebte langsam gen Himmel. Voller Würde und Stolz. Das hielt Ana nicht länger aus. Sie nahm einen Stein und schmiss ihn. Sie traf ihr Gewissen genau zwischen die Augen. Es stürzte ab, brach sich die Flügel und heulte. Ana ging zufrieden fort. Sie ging heim. Erinnerungen und Gefühle würden jetzt langsam zurückkehren. Ana beschloss ihnen distanziert zu begegnen. Sie würde in den Tag hinein leben und nichts bereuen. Ana würde frei sein, leben, lachen und lieben. Für die Fleißigen gab es Sport und Religion, für die Faulpelze Schnaps und Antidepressiva, für ein glückliches Leben in einer totalen Welt.

... link (0 Kommentare)   ... comment